Bessere Entscheidungen treffen mit dem Opportunity Solution Tree
Großartige Produkte entstehen, wenn sie Probleme von Menschen lösen und ihnen so das Leben erleichtern. In der Produktentwicklung verbringen wir deshalb einen Großteil unserer Zeit damit, gute Lösungen für die Probleme unserer Nutzer zu finden. Die Schwierigkeit liegt dabei häufig nicht in der Generierung einer Vielzahl von unterschiedlichen Ideen, sondern vielmehr in der Entscheidung für welche Lösungsansätze wir unsere begrenzten Ressourcen in den nächsten Wochen oder Monaten einsetzen wollen. Steve Jobs hat es einmal so formuliert: „People think focus means saying yes to the thing you’ve got to focus on. But that’s not what it means at all. It means saying no to the hundred other good ideas.” Aber wie wählen wir nun aus, auf welchen Ansatz wir uns fokussieren und zu welchen hundert Ideen wir Nein sagen? Ich möchte heute ein Werkzeug vorstellen, welches ich gerne nutze, um (hoffentlich) gute und fundierte Entscheidungen zu treffen.
Probleme strukturieren
Um es direkt vorwegzunehmen: Natürlich gibt es kein Tool auf dieser Welt, welches es uns ermöglicht, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen oder immer die beste Lösung für ein Problem zu finden. Sollte es dies irgendwann geben, wäre es nach meiner oben genannten Definition ein ziemlich großartiges Produkt, da es viele Probleme lösen und den Alltag von unzähligen Menschen deutlich erleichtern würde. Es gibt aber Methoden, die uns helfen Probleme und ihre möglichen Lösungen zu strukturieren und so eine bessere Entscheidungsgrundlage zu bilden. Eine dieser Methoden ist der Opportunity Solution Tree. Der Baum gibt uns eine Struktur vor, mit deren Hilfe wir ein übergeordnetes Bild des zu lösenden Problems und all seiner möglichen Lösungsansätze erzeugen können. Dieses Bild erhöht die Wahrscheinlichkeit, gute Entscheidungen zu treffen.
Opportunity Solution Tree
Im Folgenden werden die vier Ebenen eines Opportunity Solution Trees erläutert. Um das Verständnis zu erhöhen, möchte ich neben der Theorie auch ein praktisches Beispiel skizzieren. Stellen wir uns dazu kurz folgende Situation vor: Wir sind Produktmanager in einem Unternehmen, dessen Geschäftsmodell auf dem Verleih von E-Scootern per App basiert. Eine unserer größten Stakeholdergruppen sind die Ordnungsämter der Städte, in denen wir unseren Service anbieten. Weil unsere Fahrzeuge von den Nutzern häufig verkehrswidrig abgestellt werden, fordern sie uns nun auf, dies zu unterbinden.
1. Outcome
Die erste Ebene, der Outcome, stellt das zu erreichende Ziel dar. Der Outcome sollte immer als eine Verhaltensänderung, die wir bei unseren Nutzern bewirken wollen, betrachtet werden. Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht, den Outcome in der Form von Objectives und Key Results (OKR) zu formulieren. Das heißt, es ist ein klar definiertes Ziel (Objective) formuliert, dessen Erreichung durch eindeutig festgelegte Messkriterien (Key Results) überprüfbar ist. Hierbei ist es wichtig, dass die ausgewählten Metriken noch keine Lösungen implizieren, sondern der Produktentwicklung genug Freiraum in der Lösungsfindung lassen.
Allein darüber, wie man aus einem Problem einen relevanten Outcome ableitet, kann man ganze Bücher schreiben. Ich möchte an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass es enorm wichtig ist, ein Problem so tief zu durchdringen, dass der angestrebte Outcome auch wirklich das hinter dem Problem liegende Bedürfnis befriedigt. Es ist deshalb zu empfehlen, sich als Team ausreichend Zeit zu nehmen, um ein Problem wirklich zu verstehen, bevor man anfängt Lösungen dafür zu suchen.
Definieren wir kurz den Outcome für unser Beispiel. Wie oben erwähnt, besteht das Problem darin, dass die Nutzer unserer Elektroroller sich beim Parken nicht an die allgemeingültigen Verkehrsregeln halten. Unsere angestrebte Verhaltensänderung ist demnach das regelkonforme Abstellen der E-Scooter. Als OKR könnte das Ganze wie folgt aussehen:
Objective: Die Nutzer parken unsere Roller regelkonform.
Key Result 1: Wir reduzieren die Bußgelder für falsch geparkte Fahrzeuge um 50.000€ pro Monat.
Key Result 2: Wir verringern die Anzahl der schriftlichen Beschwerden über unsachgemäß abgestellte Roller um 80% pro Monat.
2. Opportunity
Die zweite Ebene sind die Opportunities. Sie stellen verschiedene Handlungsfelder dar, in denen wir uns zur Erreichung des Outcomes bewegen können. Es ist hier zu empfehlen, die Opportunities aus einer ausführlichen User Research abzuleiten. Nur wenn wir die Motive, Bedürfnisse und Probleme unserer Nutzer kennen, können wir das daraus resultierende Verhalten verstehen und nachhaltig verändern.
Nehmen wir an, dass eine Befragung unserer Nutzer folgendes ergeben hat:
- Die Nutzer kennen die Regeln und Vorschriften zum Parken von E-Scootern nicht.
- Den Nutzern ist es egal, ob ein Roller regelkonform oder regelwidrig abgestellt wurde, da die anfallenden Bußgelder vom Anbieter getragen werden.
Daraus lassen sich zwei offensichtliche Opportunities ableiten. Die erste Opportunity beschäftigt sich mit der Transparenz von Regeln und Vorschriften. Diesem Handlungsfeld liegt die Annahme zugrunde, dass weniger Roller falsch geparkt werden, wenn den Nutzern die Rechtslage bewusst ist. Das zweite Handlungsfeld besteht darin, Anreize für ein regelkonformes Abstellen der E-Scooter nach einer Fahrt zu schaffen. Dies umfasst sowohl negative Anreize wie Strafen als auch positive Motivationen in Form von Belohnungen.
3. Solution
Die dritte Ebene stellen die Solutions, also die konkreten Lösungsansätze dar. Hier werden sämtliche Ideen für die Erreichung des Outcomes, strukturiert nach den Handlungsfeldern, gesammelt. Wichtig ist dabei, dass die Ideen auch wirklich in die Opportunities passen. Ist dies nicht gewährleistet, besteht die Gefahr, dass wir Ressourcen für die Entwicklung von Lösungen einsetzen, welche uns nicht näher an das übergeordnete Ziel bringen. Ich möchte hier ausdrücklich empfehlen, verschiedene Fachdisziplinen in die Ideengenerierung einzubeziehen. Die unterschiedlichen Perspektiven sorgen i.d.R. für einen sehr bunten Strauß an Ideen. Dieser bunte Strauß erhöht die Wahrscheinlichkeit, die beste Lösung für ein Problem zu finden.
An dieser Stelle ist noch der Begriff des Multitrackings zu erwähnen. Multitracking bedeutet mehrere, konkurrierende Ideen systematisch, im besten Fall parallel, abzutesten, um sie anschließend miteinander zu vergleichen. Dies soll vor allem verhindern, dass sich Entwicklungsteams zu früh in eine Lösung verlieben und in der Folge alternative, vielversprechende Ansätze ignorieren. Hier gilt es in meinen Augen ein gesundes Mittelmaß zwischen dem effizienten Einsatz von Ressourcen (wir haben ja noch andere Probleme zu lösen) und dem Bestreben, die perfekte Lösung zu entdecken, zu finden.
Schauen wir uns kurz ein paar oberflächliche Lösungsansätze zu unseren identifizierten Handlungsfeldern an. Im ersten Handlungsfeld könnten wir beispielsweise eine Lösung verfolgen, in der Nutzer vor der ersten Fahrt ein kleines Regel-Quiz in der App durchführen müssen. Wir könnten aber auch den Besitz eines Führerscheins als Voraussetzung für die Nutzung eines Elektrorollers festlegen. Dieser Lösungsansatz ist eng mit der Annahme verknüpft, dass die einmal für die Führerscheinprüfung gelernte Theorie jederzeit abrufbar ist. I doubt it. Eine weitere Lösung wäre es, die Regeln zum Abstellen von E-Scootern in der App anzuzeigen, bevor eine Fahrt beendet werden kann. Auch im zweiten Handlungsfeld bieten sich verschiedene Lösungsansätze an. So könnte man Nutzer, die ihre Roller nach einer Fahrt regelkonform abstellen, belohnen. Zum Beispiel mit Rabatten für zukünftige Buchungen. Denkt man in die andere Richtung, so kommt man schnell auf die Idee, Strafgebühren für Falschparker einzuführen. Besonders der Vergleich dieser beiden Ideen kann spannend sein. Was funktioniert besser? Zuckerbrot oder Peitsche?
4. Experiment
Die letzte Ebene sind die Experimente. Sie sollen uns dabei helfen, so schnell wie möglich Ideen zu validieren oder falsifizieren. Dafür ist es wichtig, dass die Experimente auch wirklich die Annahmen überprüfen, welche den verschiedenen Lösungsansätzen zugrunde liegen. Da einer Idee häufig nicht nur eine einzelne Annahme zugrunde liegt, müssen in der Regel mehrere Experimente durchgeführt werden, um einen Ansatz zu bewerten. Die Dokumentation der einzelnen Versuche macht den Opportunity Solution Tree dabei zu einem wertvollen Messinstrument für den Fortschritt in der Problemlösung.
Betrachten wir nun auch diese Ebene anhand eines Lösungsansatzes aus unserem Beispiel. Wenn wir unsere Roller nur noch an Nutzer mit einer gültigen Fahrerlaubnis vermieten wollen, dann sollten wir vorher unbedingt mehrere Annahmen abtesten. Die erste und kritischste Annahme ist in meinen Augen, dass der Besitz eines Führerscheins wirklich zu einem verantwortungsvolleren Parkverhalten führt. Ist dies nicht der Fall, können wir uns die Überprüfung der restlichen Hypothesen sparen. Um die Annahme zu überprüfen, ist es denkbar, einen A/B Test durchzuführen, in welchem das Verhalten von Nutzern mit und ohne Führerschein verglichen wird. Eine weitere kritische Annahme, die überprüft werden sollte, ist, ob die Nutzer überhaupt dazu bereit sind, die in ihrem Führerschein enthaltenen persönlichen Daten mit uns zu teilen. Nutzerinterviews dürften zur Überprüfung dieser These ein geeignetes Instrument sein. Und so sollten wir uns nach und nach durch die einzelnen Lösungsansätze hangeln, solange bis wir genug Informationen haben, um unsere unterschiedlichen Ideen zu bewerten.
Fazit
Um die beste Lösung für ein Problem zu finden, ist es unumgänglich, sämtliche zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen zu überprüfen, zu bewerten und zu vergleichen. Genau hier setzt der Opportunity Solution Tree an. Er zeichnet ein Bild, in dem alle alternativen Lösungsansätze für die Lösung eines Problems dargestellt werden. Die einzelnen Ideen leiten sich dabei alle aus einem übergeordneten Outcome ab. Der Baum verbindet damit die strategische mit der operativen Produktebene. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der Opportunity Solution Tree eine exzellente Grundlage für die Kommunikation mit Stakeholdern, aber auch für das Alignment innerhalb eines Teams bildet. Der Opportunity Slution Tree ist damit für mich eines der wertvollsten und mächtigsten Werkzeuge, die uns in der Product Discovery zur Verfügung stehen. Am Ende möchte ich noch anmerken, dass die beste Lösung nicht immer die sein muss, welche ein Bedürfnis am umfänglichsten erfüllt. In Zeiten von stark begrenzten Ressourcen ist es wahrscheinlich sinnvoller den Ansatz zu wählen, der mit einem minimalen Input einen zufriedenstellenden Outcome generiert. Dies kann auch die zweit-, dritt-, oder viertbeste Idee sein.
Referenz
Teresa Torres – Continuous Discovery Habits